Liebe ohne Grenzen: Wie offene Beziehungen und Polyamorie unsere Definition von Treue neu erfinden

Polyamorie

Polyamorie und offene Beziehungen erleben eine Renaissance. Doch wie gelingt sexuelle Freiheit ohne Tränen und Eifersucht? Wir werfen einen genaueren Blick auf diese Lebensweisen.

Polyamorie bedeutet „Liebe zu mehreren“. Ist das die neue Interpretation freier Liebe, also eine Form bedingter Treue? Diese Idee ist jedoch nicht neu. Schon in den 1970er-Jahren, nach der sexuellen Revolution, hatte sie unter dem Begriff „offene Beziehung“ ihren Höhepunkt, obwohl dies heute oft als „Sex ohne Grenzen“ verstanden wird.

Für manche mag das eher beliebig als liebevoll wirken. Und viele kennen die Enttäuschungen, die dieses Beziehungsmodell mit sich bringen kann, sei es durch Erzählungen, Filme oder Magazine: Am Ende war jemand immer verletzt und unglücklich. Doch muss das immer so enden? Oder könnte die „quasi monogame Beziehung“ für einige Paare die Antwort sein und langfristiges Glück ermöglichen? Wir gehen der Sache nach.

Wie funktioniert sexuelle Freiheit ohne Tränen und Eifersucht?

In „quasi monogamen“ Beziehungen ist emotionale Treue das Fundament, auf dem Paare ihre sexuelle Offenheit aushandeln. Die Beziehung dient als sicherer Hafen, von dem man gelegentlich zu kleinen Abenteuern aufbricht. Studien deuten darauf hin, dass solche Beziehungen glücklich verlaufen können, selbst wenn das Paar Kinder hat.

„Liebe basiert auf Ehrlichkeit, nicht auf Exklusivität“, erklärt der Sexkolumnist Dan Savage aus Seattle, der diesen Beziehungsstil als „monogamish“ bezeichnet, was sich mit „quasi monogam“ übersetzen lässt. Ein Widerspruch? Wir schauen genauer hin.

Ist offene Monogamie das ideale Modell für die Liebe von heute? Diese Form bringt zwei gegensätzliche Strömungen zusammen: Einerseits erleben Werte wie Treue und Vertrauen eine Renaissance. In einer Umfrage der Dating-Website Parship gaben 88 Prozent an, dass ihnen Treue besonders wichtig ist.

Andererseits debattieren Evolutionsforscher darüber, ob Menschen überhaupt für Monogamie geschaffen sind, da unsere Vorfahren nicht nur Höhlen und Mammuts, sondern auch ihre Partnerteilten. Studien zeigen, dass nur 3 bis 5 Prozent der Säugetiere und Primaten monogam leben, während Monogamie bei Vögeln häufiger vorkommt.

Abgesehen davon zeigt sich der Einfluss unserer steinzeitlichen DNA: In jeder zweiten Ehe kommt es zu Untreue. „Das Modell ‚alles mit einem für immer‘ ist noch relativ neu“, bemerkt der Hamburger Psychologe Holger Lendt.

Warum ist Liebe für uns immer gleichbedeutend mit Paar-Liebe?

Die Idee der romantischen Liebe entwickelte sich erst in den letzten Jahrhunderten. „Das führt zu überzogenen Erwartungen an die Partnerschaft“, meint Lendt. Im 21. Jahrhundert wirkt Treue oft veraltet: „Ökonomie, Technologie und Demografie haben unser Sozialleben umgestaltet“, sagt die US-Historikerin Pamela Haag, die flexible Monogamie erforscht.

Konkret bedeutet das: Frauen haben finanzielle Unabhängigkeit, um über ihre Beziehungen zu entscheiden. Das Internet ermöglicht es, Menschen mit ähnlichen emotionalen und erotischen Wünschen schnell zu finden. Zudem leben wir heute länger und haben dadurch mehr Möglichkeiten bei der Partnersuche.

Monogamie, Polyamorie: Welche Beziehungsformen gibt es eigentlich? Die Auswahl an Beziehungsmodellen wird größer, aber letztlich unterscheiden sie sich vor allem durch das Maß an Toleranz gegenüber dem Partner.

Hier sind die gängigsten Varianten:

Monogamie: Treue zu zweit – bis dass der Tod euch scheidet. Im Ursprung: Ehe mit einem/einer Partneroder exklusive Beziehungen.

Polygamie: Steht für Vielehe – mehrere, auch sexuelle Beziehungen parallel. In der Eheform rechtlich nicht erlaubt und als sexuelle Lebensform oft abgelehnt.

Polyamorie: Stellt das Konzept der Treue infrage. Die Partner erlauben sich im vollen Wissen und Einverständnis Liebesbeziehungen zu anderen.

Verhandelte Monogamie: Neuer Trend: Setzt emotionale Treue zu einem Partner voraus, während die Beziehung sexuell geöffnet wird und Paare miteinander aushandeln, was sie sich erlauben.

Wie gelingt eine offene Beziehung in der Praxis?

Das hängt von euch ab! Die Regeln sind frei verhandelbar: Einige Paare erlauben sich One-Night-Stands, andere gehen weiter, manche bevorzugen Stillschweigen, andere totale Offenheit.

Warum ist es besser, das Fremdgehen abzusprechen, anstatt es heimlich zu tun? „Es ist immer besser, eine Öffnung der Beziehung zu vereinbaren“, empfiehlt Holger Lendt. „Denn der Verlust an Vertrauen schmerzt den Betrogenen am meisten – nicht der Sex mit anderen.“

Was tun, wenn es schmerzt?

Dann muss neu verhandelt werden: offen reden und die Vereinbarungen anpassen. Esther und Leo fanden für sich einen Kompromiss. Regel eins: nur mit jemand Besonderem schlafen. Regel zwei: nur Sex, keine Romantik, um die Beziehung zu schützen. Nach einem Jahr: Leo hatte während einer Geschäftsreise eine Affäre, Esther eine kurze Romanze vor Ort.

Wie viele Menschen leben eine offene Beziehung? Schwer zu sagen. In unserer Umfrage gaben 7 Prozent von 832 Teilnehmerinnen an, dass sie in einer offenen Beziehung leben. Statistisch also jedes 14. Paar. Aber die meisten gehen mit solchen Arrangements nicht offen um. Fremdsex gilt für viele immer noch als moralisch zweifelhaft – besonders, wenn ihn eine Frau genießt.

Doch fast ein Drittel der Frauen in unserer Umfrage wünscht sich Sex mit einem anderen. Mangelnde Lust ist also kein Grund. „Vor 70 Jahren waren Sex vor der Ehe und gemischte Ehen auch noch tabu“, erklärt Historikerin Haag. Heute regt das kaum noch jemanden auf.

In einer Umfrage von Haag unter 1879 Befragten sagten 41 Prozent, dass nichtmonogame Liebe funktionieren kann, wenn das Paar sich einig ist. Haag prognostiziert, dass dieser Trend langfristig zunimmt, auch wenn er nicht die Mehrheit dominieren wird.

Für wen eignet sich eine offene Beziehung? Nicht jeder ist für diese Freiheit gemacht: „Eine offene Beziehung ist nur für Menschen ratsam, die den Partner wirklich freigeben können“, so Psychologe Lendt.

Beide Partner brauchen hohe Kommunikationsfähigkeit und großes Vertrauen zueinander. „Eine Öffnung wird scheitern, wenn sie als Lösung für eine angeschlagene Beziehung gedacht ist“, erklärt Lendt.

Ein weiterer Fehler: es nur dem Partner zuliebe zu tun. Das funktioniert nie. Stattdessen sind gewisse Voraussetzungen nötig, wie sexuelle Abenteuerlust und die Bereitschaft, die Beziehung ständig neu auszubalancieren.

Was bringt eine offene Beziehung?

Wer viel riskiert, kann viel gewinnen – oder verlieren. Eine offene Beziehung kann das Potenzial haben, eine Beziehung zu vertiefen, wenn beide Partner ehrlich und fair zueinander sind – emotional und sexuell. Vielleicht hält so die große Liebe wirklich ein Leben lang. Quasi monogam – und fast immer treu.

 

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