Spätestens seit sich der Fitnesssport seinen Weg in den Mainstream gebahnt hat, hat auch die Mythenbildung extrem an Fahrt aufgenommen. Zu diesen Mythen zählt neben dem Konsum von mindestens 300 Gramm Protein pro Tag selbstverständlich auch die Vermeidung von Kohlenhydraten am Abend. Dass diese angebliche Wahrheit doch eher der Bro-Science entstammt, sollte eigentlich klar sein, aber dennoch hält sich dieser Aspekt besonders hartnäckig. Im folgenden Artikel möchten wir uns dementsprechend diesem Thema zuwenden und überprüfen, was an diesem Mythos wirklich dran ist und welcher der vielen Experten denn nun Recht behält.
Wo kommt dieser Mythos eigentlich her?
Um diesem angeblichen Fakt auf den Grund zu gehen, müssen wir zunächst einmal verstehen, warum die Begrenzung der Kohlenhydrataufnahme am Abend überhaupt empfohlen wird. Der Grund, warum die meisten Experten diese Vorgehensweise empfehlen, ist schlicht die Annahme, dass du bereits kurz nach der Aufnahme der Kohlenhydrate ins Bett gehst. In der Folge verlangsamt sich dein Stoffwechsel, womit auch im Umkehrschluss die Wahrscheinlichkeit dafür steigt, dass die nicht verbrauchte Energie in Form Kohlenhydraten als Depotfett gespeichert wird. Darüber hinaus gehen viele Experten davon aus, dass sich die Insulinsensibilität in der Nacht signifikant reduziert, sodass der Weg in die Fettzellen sprichwörtlich vorgezeichnet ist. Schauen wir uns die vermutete Verlangsamung des Stoffwechsels in den Nachtstunden doch einmal genauer an, denn die dahinter stehende Logik ist durchaus plausibel.
Denn sobald du schläfst, fährt dein Organismus schließlich in den Ruhezustand und verbraucht damit weniger Energie als zu jedem Zeitpunkt des Wachzustandes. Oder ist es doch anders? Dieser Frage haben sich japanische Forscher angenommen und haben tatsächlich herausgefunden, dass der Energieverbrauch in der ersten Hälfte der Schlafphase tatsächlich um bis zu 35 Prozent niedriger ist. Besonders interessant ist jedoch die Tatsache, dass die japanischen Wissenschaftler ebenfalls belegen konnten, dass die Stoffwechselrate insbesondere während des REM-Schlafs mitunter sehr deutlich ansteigen kann. Damit ergibt sich die Erkenntnis, dass der Energieverbrauch während des Schlafs im Durchschnitt nicht Signifikant vom Energieverbrauch im Ruhezustand abweicht. Dank dieser Erkenntnis hat sich die entsprechende Begründung für die Vermeidung von Kohlenhydraten also endgültig erledigt.
Das Ganze »iss abends keine Kohlenhydrate« ist also Bro-Science oder?
Naja, nicht ganz. Zwar haben wir die ganze Angelegenheit bezüglich der Reduktion der Stoffwechselrate entschärft, was aber im Gegenzug bedeutet, dass noch immer die Problematik der Insulinsensibilität sowie der Glucose-Toleranz übrig bleibt. Und genau an dieser Stelle wird es spannend. Wie Studien aus den 1990er-Jahren belegen, ist sowohl der Blutzuckerspiegel als auch der Insulinspiegel abends tendenziell höher als morgens beziehungsweise hält sich nach einer Mahlzeit länger im Blut. Ist das also jetzt der Beweis für den Mythos? Nicht so schnell, denn du solltest in diesem Zusammenhang im Hinterkopf behalten, dass der Unterschied zwischen den Tageszeiten daraus resultiert, dass du am Morgen eine etwa zehnstündige Fastenphase hinter dir hast. Es liegt natürlich auf der Hand, dass die Werte hinsichtlich der Insulinsensibilität diesbezüglich stark abweichen. Zieht man für einen solchen Vergleich hingegen ein hypothetisches Mittagessen heran, so ergibt sich ein völlig anderes Bild, denn wie auch schon im Fall der Stoffwechselrate, ergibt sich kein großartiger Unterschied.
Macht die Tageszeit also tatsächlich keinen Unterschied?
Im Angesicht der Tatsache, dass wir im Rahmen dieses Artikels bereits einige scheinbar in Stein gemeißelte Gesetze entkräftet haben, stellst du dir natürlich zu Recht die Frage, ob die Tageszeit bei der Einnahme von Kohlenhydraten überhaupt einen Unterschied ausmacht. Diesbezüglich möchten wir eine weitere interessante Studie aus Israel ins Feld führen. Im Zuge dieser Untersuchung teilten die Wissenschaftler ihre Probanden in zwei Gruppen auf, die allesamt über sechs Monate hinweg eine kalorienreduzierte Diät durchführten. Dabei bekamen alle Probanden neben der gleichen Menge an Kalorien auch die gleiche Makronährstoffverteilung zugeteilt. Der einzige Punkt, in dem sich die beiden Testgruppen unterschieden haben, war lediglich das Timing der Kohlenhydratzufuhr. Während die eine Gruppe die Kohlenhydrate gleichmäßig über den gesamten Tag hinweg konsumierte, war die andere Gruppe angewiesen worden, 80 Prozent der Kohlenhydrate am Abend sowie kurz vor dem Zubettgehen zu sich zu nehmen. Und das Ergebnis überrascht tatsächlich, denn die Gruppe, die ihre Kohlenhydrate vorwiegend am Abend konsumierte, verlor nicht nur deutlich mehr Körperfett als die Kontrollgruppe, sondern berichtete auch von einem deutlich geringeren Hungergefühl.
Was steckt hinter dem Studienergebnis?
Gerade im Angesicht der Tatsache, dass in den vergangenen Jahren gänzlich Gegensätzliches propagiert wurde, mutet es durchaus wie ein Schock an, dass nun alles ganz anders zu sein scheint. Die Forscher erklären ihr Studienergebnis durch eine Verschiebung des hormonellen Milieus, denn der Insulinspiegel der Testgruppe, die Kohlenhydrate vorwiegend in den Abendstunden konsumierte, war auch im Durchschnitt deutlich niedriger als der Insulinspiegel der Vergleichsgruppe. Darüber hinaus wies diese Gruppe eine deutlich höhere Blutkonzentration des Hormons Adiponectin auf, das mit einer erhöhten Insulinsensibilität sowie einer verbesserten Fettverbrennung in Verbindung gebracht wird. Was zudem sehr überraschend ist, ist die Tatsache, dass die Testgruppe, die abends Kohlenhydrate aß, ein deutlich günstigeres Verhältnis zwischen LDL- und HDL-Cholesterin zu verzeichnen hatte.
Wie lautet also das Urteil?
Wir sind natürlich weit davon entfernt zu empfehlen, dass wir alle Regeln über Bord werfen und von nun an jede Nacht eine Kohlenhydratparty feiern sollten, denn dazu müssten die Ergebnisse der israelischen Studie im Nachgang noch durch weitere Untersuchungen untermauert werden. Nichtsdestotrotz können wir mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Konsum von Kohlenhydraten am Abend deutlich weniger schlimm ist, als es uns viele Experten Glauben machen wollen. Die Regel »iss abends bloß keine Kohlenhydrate« kann also getrost als Bro-Science ad acta gelegt werden. Da du dies nun weißt, kannst du dir auch mal deine Pasta am Abend wieder ohne schlechtes Gewissen schmecken lassen – jedenfalls, sofern du dich an deine Kalorienbilanz hältst.