Heutzutage scheint es so, als hätte jeder in irgendeiner Art und Weise eine Essstörung oder hat zumindest zu jemandem Kontakt, der darunter leidet. Vielleicht ist es ein Familienmitglied, ein Freund, ein Arbeitskollege oder ein Kunde.
Wer auch immer es ist, in der Realität ist genau dieser Punkt eine große Belastung für alle Beteiligten. Mir erging es auch so.
Wie alles begann
Ich bin Lisa und möchte dich auf eine Reise mitnehmen. Meine Reise, die ich mit einem sehr vertrauten Begleiter verbracht habe – meiner Bulimie. Als ich 13 Jahre alt war, hat es angefangen. So wirklich akzeptiert, dass etwas mit mir und meinem Essverhalten nicht zu 100 Prozent in Ordnung ist und ich Hilfe benötige, habe ich erst im Alter von 16 Jahren. Ich habe über Jahre hinweg verschiedene Lösungsansätze ausprobiert, wirklich gebracht hat es aber nichts. So habe mich also mehr oder weniger durchgeschleppt, bis ich 24 wurde, ohne signifikante Verbesserungen zu bemerken. Am 25. August letzten Jahres bin ich 25 geworden und habe bemerkt, wie viel Zeit es tatsächlich braucht, um gegen so etwas wie Bulimie anzukämpfen. Wenn du selbst in einer solchen Situation steckst, wirst du mir zustimmen können. Meine Bulimie hat mich an einige Tiefpunkte gebracht, die meine Psyche durcheinandergebracht und mich nachts nicht schlafen haben lassen. Ich habe alles versucht, um positiv zu denken und jeden Weg beschritten, der Besserung versprochen hat. Und glaube mir, das waren viele. Letztendlich bin ich auf meiner Reise erstmals in einer Therapieeinrichtung gelandet, in der ich einen Monat verbrachte.
Eine erfolglose Therapie später begann ich eine erneute Therapie. Dieses Mal für drei Monate. Nach vielen harten Kämpfen mit meinem eigenen Ich habe ich es geschafft, mich aus den Klauen der Bulimie zu winden. Ich habe mir meinen Traum erfüllt und arbeite heute als Personal Trainer in meinem eigenen kleinen Unternehmen in der Fitness-Industrie. Mein Ziel ist es, allen Frauen dabei zu helfen, ihre Fitness-Ziele zu erreichen und sich damit in ihrem Körper so richtig zuhause zu fühlen, ohne dass schlechte Hintergedanken die Selbstwahrnehmung trüben.
Aufgeben ist nicht drin
Warum ich es geschafft habe? Das ist eigentlich ganz einfach, denn ich habe für mich selbst beschlossen, dass das Leben einzigartig und (entschuldigung) verdammt lebenswert ist. Und weißt du was? Selbst wenn du das aktuell nicht so sehen solltest, lässt sich das ändern. Besserung ist in jedem Fall möglich. Realisiert habe ich das erstmals während meines letzten Aufenthalts in der Therapieeinrichtung, wo ich eine ganze Menge schöner und starker Frauen kennenlernen durfte, die allesamt mit ihren ganz persönlichen Essstörungen fertigwerden mussten. Manche litten wie ich auch unter Bulimie. Andere hingegen hungerten und wiederum andere hatten mit einem überbordenden Appetit zu kämpfen. Wir haben zusammen so manches Stadium durchgemacht und uns oft in einem Spannungsfeld aus Hungern und Binge-Eating bewegt. Letztendlich haben wir es aber alles geschafft, uns zu befreien.
Mein persönlicher Schlüssel lag darin, dass ich mich genau mit meiner Essstörung beschäftigt habe, um sie zu verstehen.
Was also genau ist Bulimie eigentlich?
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Bulimie als ein Syndrom, das von sich wiederholenden Zyklen aus exzessivem Überessen und Übergeben zur zwanghaften Kontrolle des Körpergewichts geprägt ist. Der Aspekt der Gewichtskontrolle rückt damit in den Fokus des täglichen Lebens und geht mit zahlreichen psychologischen Effekten einher, die die Wahrnehmung des Betroffenen trüben. Ich zum Beispiel habe mich im Spiegel immer als dickes Monstrum gesehen, obwohl ich objektiv betrachtet deutliches Untergewicht hatte. Insbesondere das zwanghafte Übergeben hat jedoch weitere physiologische Auswirkungen auf den Organismus, denn dadurch gehen unter anderem ständig Elektrolyte verloren, die wieder aufgefüllt werden müssten. Ich habe mit unangenehmen Effekten wie Kopfschmerzen, Krämpfen und Konzentrationsstörungen zu kämpfen gehabt.
Bei jedem ist es anders
Unabhängig davon, dass wir alle unter der Bulimie leiden, sind wir immer noch Individuen, sodass Auswirkungen und Verhaltensweisen durchaus variieren. Das gilt insbesondere für das Ausmaß der Essensexzesse. Um ehrlich zu sein, habe ich zu meinen schlimmsten Zeiten zwischen 30 und 65 Euro pro Tag für Nahrung ausgegeben, manchmal sogar über 100 Euro. Wie viel es letztlich war, hing davon ab, was am betreffenden Tag passiert ist und wie ich mich fühlte. Je schlimmer es war, desto teurer wurde es. Bereits 30 Euro pro Tag sind schon eine Menge Geld, womit sich natürlich die berechtigte Frage danach stellt, wohin das Geld im Detail geflossen ist. Um es einfach auf die unappetitliche Weise zu sagen: ins Klo. Das ist keine Übertreibung, denn das meiste ist nicht einmal in meinem Darm angekommen. Genau genommen hätte ich eigentlich auch gleich regelmäßig Münzen in meiner Kloschüssel oder 5-Euro-Scheine in öffentlichen Toiletten versenken können. Ja, ich weiß, das ist nicht sonderlich schön, aber die harte Realität der Bulimie. Ich habe mich aber nicht nur übergeben, sondern habe auch auf diverse andere Mittel zur Gewichtskontrolle zurückgegriffen. Darunter etwa zweifelhafte Diätpillen, Abführmittel, Fasten, übertriebenes Ausdauertraining und ja, leider auch Drogen. Und wenn ich ehrlich bin, hat es nichts gebracht, denn zu den schlimmsten Zeiten konnte ich nicht einmal ein niedriges Gewicht halten, sondern musste dabei zusehen, wie mein BMI zwischen 17 und 30 schwankte. Eine Essstörung zu haben bedeutet also nicht immer, dürr zu sein. Sie kann ganz im Gegenteil viele Formen haben. Vor meiner letzten Therapie habe ich rein gar nichts in den Griff bekommen. Das hat aber nicht nur mich beschäftigt, sondern auch viele Menschen in meinem Umfeld schwer getroffen, sodass ich letztlich Schritt für Schritt eine Depression geschlittert bin.
Bulimie ist nicht bloß irgendeine lapidare Essstörung, sondern eine gemeine Krankheit, die jeden einzelnen Aspekt im Leben einer Person bis ins kleinste Detail beeinflusst. Das umfasst sowohl die Beziehung zu anderen Menschen als auch Dinge wie Geburtstage oder Urlaube mit Freunden, die aus dem Druck heraus, die Bulimie zu verheimlichen, zu einer wahren Qual ausarten. Es hat lange gedauert, bis ich die ersten Schritte in die richtige Richtung gemacht habe und sich für mich langsam ein gangbarer Weg herauskristallisiert hat. Dieser Weg ist aber keine Einbahnstraße, denn oftmals folgen auf drei Schritte vorwärts zwei Schritte rückwärts, bevor du zum nächsten Satz nach vorne ansetzen kannst. Um diesen Weg zur Besserung möglichst schnell zu beschreiten, ist es wichtig, zu wissen, was zu tun und was zu vermeiden ist. Daher möchte ich meine Erfahrungen mit dir teilen.
Was du besser nicht tun solltest
Auch wenn einige der folgenden Ratschläge reichlich offensichtlich erscheinen, ist es wichtig, dass du sie bewusst beherzigst. An dieser Stelle möchte ich nochmals betonen, dass jede Essstörung anders ist, was aber nichts daran ändert, dass es einige Punkte gibt, in denen sich diese überschneiden. Der größte Faktor sind die kleinen Zwischentöne in der Kommunikation. Das gilt sowohl dann, wenn gesunde Personen mit Betroffenen sprechen aber auch, wenn du als genesene Person mit anderen Betroffenen sprichst, die sich noch auf dem Weg der Genesung befinden.
1. Sprich das Aussehen deines Gegenübers am besten nicht an
- »Oh, du siehst super aus!«
- »Du bist doch gar nicht zu dünn!«
- »Schön zu sehen, dass du wieder etwas zugenommen hast und gesünder aussiehst!«
- »Es kann doch gar nicht so schlimm sein, du siehst doch gut aus!«
Aussagen wie diese scheinen recht unbefänglich. In den Ohren eines Betroffenen können sie jedoch sehr verletzend wirken und leicht als ein »oh man siehst du fett aus« interpretiert werden. Ein weiterer Punkt, der wichtig zu verstehen ist, ist, dass es bei Essstörungen nicht nur um das Aussehen geht. Wie ich dir bereits aus meinen eigenen Erfahrungen berichtet habe, läuft das meiste auf der psychologischen Ebene ab. Wenn du also jemandem mit einer Essstörung ein Kompliment bezüglich seines Aussehens machen möchtest, solltest du ganz sicher sein, wie sich eine Person wirklich fühlt. Wenn du dir nicht sicher sein kannst, dann lass es besser bleiben. Auf der anderen Seite solltest du in der Rolle als Betroffener aber auch schrittweise daran arbeiten, Komplimente als solche wahrzunehmen und selbstbewusst mit einem: »Danke, ja ich sehe wirklich gesünder aus.« zu antworten.
2. Stell keine “dummen” Fragen
- »So, du isst also nichts?«
- »Wie niedrig war dein Gewicht denn?«
- »Isst du eigentlich viel, wenn es so weit ist?«
- »Warum machst du das?«
Auch hier sind es wieder die kleinen Zwischentöne, dieser nicht abwertend gemeinten Aussagen, die Betroffene stark verletzen können. In einem Gespräch mit einem Betroffenen solltest du solche Vermutungen also dringend vermeiden. Insbesondere die Frage nach dem »Warum« kann fatale Folgen haben und Betroffene aus der Bahn werfen. Das kann ich auch eigener Erfahrung bestätigen.
3. Reite nicht auf offensichtlichen Dingen herum
- »Weißt du denn nicht, dass das schlecht für deine Gesundheit ist?«
- »Du würdest dich soviel besser fühlen, wenn du aufhören würdest.«
- »Du brauchst aber X Kalorien am Tag.«
Du kannst mir glauben, jeder Betroffene kennst diese Fakten. Ich selbst habe während meiner Erkrankung ab meinem 20. Lebensjahr Ernährungswissenschaften studiert. Die Ernährung war schließlich meine Obsession. Ich kenne auch einige Frauen, die in dieser Hinsicht noch mehr wissen als ich, sogar einen Doktortitel in Ökotrophologie haben und trotzdem an Bulimie leiden. Wie gesagt Bulimie ist eine heimtückische Geschichte, die sich mit der blanken Rationalität weder verstehen noch besiegen lässt. Solche offensichtliche Dinge solltest du gegenüber einem Betroffenen also niemals betonen, denn das wissen sie in der Regel selbst, und vielleicht sogar besser als du.
Was zu tun ist
Zugegebenermaßen ist die Kommunikation ein extrem heißes Pflaster. Paradoxerweise ist die Kommunikation aber auch einer der Schlüssel, der es den Betroffenen erleichtert, den Weg zur Genesung zu beschreiten. Es gibt in dieser Hinsicht aber gute und schlechte Wege, die Dinge anzusprechen. Wichtig ist aber, dass du die Courage dazu hast, dich offensiv mit dem Thema zu beschäftigen, denn das hat auch mir enorm geholfen.
Hier also ein paar Anregungen, die zeigen, wie meine Freunde mit mir umgegangen sind:
- »Ich kann nicht verstehen, was du durchmachst, aber ich habe immer ein offenes Ohr für dich, wenn du jemanden zum Reden brauchst.«
- »Gibt es irgendwas, das ich für dich tun kann, das dein Leben einfacher macht?«
- »Scheint so, als wäre mit dir gestern nicht alles in Ordnung gewesen. Ich möchte mich da nicht allzu sehr einmischen. Ich wollte mich einfach nur vergewissern, dann mit dir wirklich alles in Ordnung ist.«
- »Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat, aber mit tut es weh, dass du das alles durchmachen musst. Vielleicht kannst du mir helfen, dich besser zu verstehen.«
Wenn du einen Betroffenen interessiert ansprichst, dann tu es mit Selbstbewusstsein und Aufrichtigkeit. Niemand von uns mag mit Mitleid überschüttet werden. Selbst wenn du keine Antwort auf deine Fragen bekommen solltest, solltest du dir dessen bewusst sein, dass dein Bemühen nicht umsonst ist. Bei mir war es beispielsweise so, dass ähnliche Aussagen meiner Freunde dazu geführt haben, dass ich wieder zurück in die Spur gekommen bin. Ich habe mir professionelle Hilfe gesucht und meinen Freunden im Nachhinein sehr dafür gedankt, auch wenn ich es zunächst nicht zeigen konnte. Und glaube mir, so geht es vielen Betroffenen.
Abschließende Worte
Ich hoffe, dass ich mit diesem Artikel ein wenig Verständnis schaffen konnte, sodass du uns als außenstehender besser verstehst. Wenn du jemanden kennst, der an einer Essstörung leidet, würde ich mich freuen, wenn du demjenigen diesen Artikel zeigen würdest, denn ich bin mir sicher, dass er helfen wird. Solltest du selbst unter einer Essstörung leiden, möchte ich dir eines mit auf den Weg geben: Hör niemals mit dem Versuch auf, dein Ziel zu erreichen, deine Essstörung zu besiegen. Ganz egal, wie hart es sich auch anfühlen mag oder wie anstrengend es ist. Gib niemals auf. Eines Tages wirst du die Bestie besiegen und dich besser fühlen als jemals zuvor. Der einzige Grund für das Scheitern ist, wenn du deine Hoffnung verlierst. Aber merke dir: Niemand kann diesen Weg für dich gehen. Das musst du schon selbst.